I. Entscheidung (Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG, gekürzt)

Ändert der Arbeitgeber die im Betrieb bestehenden Entlohnungsgrundsätze unter Verstoß gegen das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 I Nr. 10 BetrVG, können die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Fortführung der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzungen eine Vergütung auf Grundlage der zuletzt mitbestimmungsgemäß eingeführten Entlohnungsgrundsätze fordern.

II. Sachverhalt

Die drei Kläger und die Beklagte streiten über Ansprüche auf Urlaubsgeld für 2020. Die Kläger waren bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten seit 2016 bzw. 2018 beschäftigt. Seit 2013 bestand ein Betriebsrat. Seit Mitte der 1990er-Jahre zahlte die Rechtsvorgängerin ein jährliches Urlaubsgeld. In den Jahren 2008 bis 2019 versandte sie jährlich im Juni/Juli ein als „Infos aus der Personalabteilung“ bezeichnetes Schreiben. Darin wurden die Mitarbeiter über eine Urlaubsgratifikation informiert, die für die geleistete Arbeit, den Arbeitserfolg und die Betriebstreue bezahlt werde. Die Höhe werde jährlich entschieden und festgelegt. Ferner enthielt das Schreiben den Hinweis, dass die Urlaubsgratifikation eine einmalige, freiwillige und jederzeit widerrufliche soziale Leistung des Arbeitgebers sei. Ab 2014 übersandte die Beklagte den Mitarbeitern ein etwas inhaltlich abweichendes Schreiben. Im Jahr 2020 entschied die Beklagte, das Urlaubsgeld auszusetzen. Der Betriebsrat wurde zum Thema Urlaubsgeld nicht förmlich beteiligt. Das ArbG gab der Klage statt, das LAG wies sie ab.

III. Entscheidung

Die Revision der Kläger hatte Erfolg. Nach Auffassung des BAG haben sie einen Anspruch auf das volle Urlaubsgeld. Bei dem Schreiben aus 2008 handele es sich um eine Gesamtzusage. Auch Arbeitnehmer, die nachträglich in den Betrieb eintreten, erwürben aus der Gesamtzusage einen Anspruch auf die zugesagte Leistung, wenn sie die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Das Schreiben aus 2008 stelle klar, dass es sich nicht nur auf das laufende Jahr beschränke, sondern allgemein die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Urlaubsgeld definiere. Daraus ergebe sich kein Anspruch auf ein feststehendes Urlaubsentgelt, sondern nur Anspruch auf die Zahlung eines Urlaubsgelds, über dessen Höhe der Arbeitgeber jährlich nach billigem Ermessen zu entscheiden habe. Ein Anspruch sei auch nicht wirksam ausgeschlossen, da die Kombination von Freiwilligkeits- und Widerrufsvorbehalt intransparent sei und damit eine zur Unwirksamkeit der Klausel führende unangemessene Benachteiligung gem. § 307 I BGB vorliege.

Die späteren Änderungen der Urlaubsgeldzusage ab 2014 seien unwirksam, da der im Jahr 2013 gebildete Betriebsrat nicht wirksam beteiligt worden sei. Er hatte nach § 87 I Nr. 10 BetrVG in den Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere bei der Aufstellung und Änderung von Entlohnungsgrundsätzen, mitzubestimmen. Bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber unterliege die gesamte Vergütung der Mitbestimmung nach § 87 I Nr. 10 BetrVG. In Fortführung der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung könnten Arbeitnehmer bei einer unter Verstoß gegen § 87 I Nr. 10 BetrVG vorgenommenen Änderung der geltenden Entlohnungsgrundsätze eine Vergütung auf der Grundlage der zuletzt mitbestimmungsgemäß eingeführten Entlohnungsgrundsätze fordern. Daher beurteile sich der Anspruch der Kläger nach dem Schreiben von 2008. Die Festsetzung des Urlaubsgelds auf „Null“ entspreche nicht billigem Ermessen. Die Beklagte habe die Voraussetzungen nicht hinreichend dargelegt. Der Hinweis auf die COVID-19-Pandemie sei nicht ausreichend. Auch im Übrigen habe sie nicht hinreichend substantiiert dargelegt, welche wirtschaftlichen Erwägungen zu einer solchen Ermessensentscheidung geführt hätten.

IV. Praxishinweis

Der 10. Senat setzt die Rechtsprechung des BAG zur Reichweite des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats nach § 87 I Nr. 10 BetrVG fort (BAG BeckRS 2019, 4947). Bei nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern besteht danach ein umfassendes Mitbestimmungsrecht bei sämtlichen Fragen der Lohngestaltung – mit Ausnahme der reinen Entgelthöhe. Nicht tarifgebundene Arbeitgeber müssen daher bei jeder Änderung der Vergütungsstruktur die Zustimmung des Betriebsrats einholen. Das BAG stellt ausdrücklich klar, dass allein die Hinnahme eines mitbestimmungswidrigen Verhaltens des Arbeitgebers die ausdrückliche Zustimmung nicht ersetzt. Einer bloßen „Hinnahme“ kann in aller Regel bereits deswegen kein Erklärungswert beigemessen werden, da eine entsprechende Beschlussfassung des Betriebsratsgremiums fehlt, mit der der Betriebsrat einen entsprechenden Willen zur Zustimmung zur arbeitgeberseitigen Änderung bilden könnte.

 

Quelle: ArbRAktuell 2024, 253, beck-online