Auch nach der Entscheidung des BGH vom 10.1.2023 (BeckRS 2023, 143) kann ein Anspruch eines Betriebsratsmitglieds auf Zahlung einer höheren Vergütung weiterhin aus § 611a II BGB i. V. m. § 78 S.2 BetrVG folgen (amtlicher Leitsatz).
I. Sachverhalt
Die Parteien streiten über die dem Kläger als freigestelltes Betriebsratsmitglied zustehende Vergütung. Vor seiner Wahl in den BR war der Kläger als Anlagenführer in Entgeltstufe 13 des Vergütungssystems eingruppiert. Die Beklagte nahm regelmäßig Anpassungen der Betriebsratsvergütung vor, zuletzt im Jahr 2014 auf Basis einer Entscheidung der im Betrieb eingesetzten „Kommission Betriebsratsvergütung“ in die Entgeltstufe 20.
2015 wurde dem Kläger das Angebot unterbreitet, als Fertigungskoordinator tätig zu werden. Es waren 3 Stellen offen. Aus Sicht der Beklagten wäre der Kläger die Idealbesetzung gewesen. Dies begründet sie mit den Kenntnissen des Klägers im Bereich der Fertigung sowie den angrenzenden Bereichen durch seine langjährige Betreuung. Zudem erachtete die Beklagte den Kläger aufgrund seines ruhigen und sicheren Auftretens als geeignet, Zweifel zu beseitigen und Probleme zu lösen. Der Kläger lehnte das Angebot im Hinblick auf seine Betriebsratstätigkeit ab. Die betriebsübliche Entwicklung des Fertigungskoordinators führt zu einer Vergütung nach Entgeltstufe 20.
Nach der Entscheidung des BGH senkte die Beklagte die Vergütung des Klägers anhand einer vergangenheitsbezogenen Vergleichsbetrachtung auf die Entgeltstufe 18 herab.
II. Entscheidung
Das ArbG gab der Klage statt. § 37 IV BetrVG stelle keine abschließende Regelung über die Höhe des Arbeitsentgelts dar. Die Vorschrift solle nur die Durchsetzung des Benachteiligungsverbots durch einfach nachzuweisende Anspruchsvoraussetzungen erleichtern. Daneben könne sich ein Anspruch des Betriebsratsmitglieds auf eine bestimmte Vergütung aus § 611a II BGB i. V. m. § 78 S. 2 BetrVG ergeben, wenn sich die Zahlung einer geringeren Vergütung als Benachteiligung des Betriebsratsmitglieds darstelle.
Die Entscheidung des BGH (s. dazu Krug, ArbRAktuell 2023, 201) habe an dieser grundsätzlichen Rechtslage nichts geändert. Der BGH habe durch den ausdrücklichen und einschränkungslosen Verweis auf die Rechtsprechung des BAG zur Zulässigkeit einer hypothetischen Karriereentwicklung gezeigt, dass er die Ansicht des BAG akzeptiere, wonach eine höhere Vergütung auch dann gerechtfertigt ist, wenn das amtierende Betriebsratsmitglied anhand von Indizien nachweist, dass sein hypothetischer Aufstieg während der Amtsperiode nur daran gescheitert ist, dass er Betriebsrat ist. Der Kläger wäre Ende Jahr 2015 Fertigungskoordinator geworden, wenn er nicht wegen seines Betriebsratsamts abgesagt hätte.
III. Praxishinweis
Die Entscheidung des ArbG überzeugt. Es sind aktuell zahlreiche weitere Verfahren von langjährig voll freigestellten BR-Mitgliedern anhängig, denen im Zuge des Urteils des BGH die Vergütung teilweise massiv gekürzt wurde. Das ArbG stellt klar, dass der BGH die in der Rechtsprechung des BAG schon länger anerkannte Möglichkeit, jenseits der reinen Vergleichsgruppenbetrachtung nach § 37 IV BetrVG auch eine höhere Vergütung im Wege der hypothetischen Karriereentwicklung gem. § 78 S. 2 BetrVG i. V. m. § 611a II BGB beanspruchen zu können (vgl. BAG, ArbRAktuell 2020, 236), nicht angetastet hat.
Dieser Fall zeichnet sich dadurch aus, dass es ein unstreitiges verbindliches Angebot des Arbeitgebers für eine konkrete freie Stelle gab. Das Gericht sah sich daher – auch wenn es das nicht ausdrücklich ausspricht – nicht veranlasst, an der Erfüllung der dem Kläger obliegenden Darlegungslast zum Nachweis der hypothetischen Karriereentwicklung zu zweifeln.
Ein weiteres Problem in diesen Fällen ist, ob und in welchem Umfang die während der Ausübung des BR-Mandats gezeigten Leistungen und persönlichen Fähigkeiten bei der hypothetischen Karriereentwicklung berücksichtigt werden dürfen. Hier wird von Arbeitgebern aus dem BGH-Urteil gefolgert, dies sei in keinem Fall zulässig. Das ArbG Emden (Urteil vom 5.7.2023 – 2 Ca 280/22 E, n. v.) dagegen hat kürzlich geurteilt, dass eine Berücksichtigung der im Betriebsratsamt erworbenen Qualifikationen zulässig und bei Einschlägigkeit der Qualifikationen für die Stelle sogar geboten sei, um eine unzulässige Benachteiligung zu vermeiden.
Quelle: ArbRAktuell 2023, 612, beck-online