LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 13.7.2023 – 5 Sa 1/23

1.Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft.

2. Eine zu Beginn der Erkrankung angetretene rund zehnstündige Bahnfahrt eines Chefarztes zum Familienwohnsitz, um dort die Hausärztin aufzusuchen, lässt ohne Hinzutreten weiterer Umstände die attestierte Arbeitsunfähigkeit nicht fragwürdig erscheinen. (amtl. Leitsätze)

Sachverhalt

Str. ist die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Kläger, Facharzt für Orthopädie, war ab 1.1.2020 bei der Beklagten als Chefarzt beschäftigt. Er hatte eine Zweitwohnung in der Nähe der Arbeitsstätte; der Familienwohnsitz befindet sich ca. 1.000 km entfernt. Mit Schreiben vom 16.8.2021 kündigte der Kläger das Arbeitsverhältnis fristgerecht zum 28.2.2022. In der Folgezeit war der Kläger wiederholt arbeitsunfähig erkrankt. Am Nachmittag des 8.2.2022 sagte der Kläger seine Teilnahme an einer Dienstbesprechung aus gesundheitlichen Gründen ab. Am Folgetag meldete er sich krank und fuhr mit der Bahn (1. Klasse) rund 10 Stunden zu seinem Familienwohnsitz. Am 10.2.2022 stellte die behandelnde Hausärztin dem Kläger eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) für den Zeitraum vom 9.2. bis 21.2.2022 aus. Sie diagnostizierte Hypertonie, Kopfschmerzen, HWS-Syndrom und Myogelosen. Ab dem 22.2.2022 nahm der Kläger seinen bereits zuvor abgestimmten Resturlaub. Die Beklagte vergütete die Zeit vom 9.2. bis 21.2.2022 nicht, wogegen der Kläger klagt. Das ArbG hat der Klage stattgegeben. Hiergegen richtete sich die Berufung der Beklagten.

Entscheidung

Die Berufung hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung des LAG hat der Kläger Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach §§ 3 I 1, 4 I EFZG für die Zeit vom 9.2. bis 21.2.2022. Zwar könne der Arbeitgeber den Beweiswert einer AUB dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlege, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukomme. Dieser Beweiswert ist nach Auffassung des LAG aber nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft. Krankheiten könnten auch in einem gekündigten Arbeitsverhältnis auftreten. Aus einer ggf. nachlassenden Motivation des Arbeitnehmers nach einer Kündigung könne nicht geschlossen werden, dass jede AUB in diesem Zeitraum makelbehaftet sei. Die rund zehnstündige Bahnreise des Klägers wecke unter Berücksichtigung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung keine Zweifel an der Richtigkeit der AUB. Die Belastung durch die Bahnreise sei nicht annähernd mit derjenigen einer Chefarzttätigkeit vergleichbar. Letztere erfordere ein hohes Maß an Konzentration, Reaktionsvermögen sowie Flexibilität. Eine Bahnreise erfordere weder Konzentration noch körperliche Anstrengungen, sondern ermögliche eine entspannte Körperhaltung und bei Bedarf Bewegung. Der Gesundheitszustand des Klägers habe keinen Grund gegeben, auf eine längere Bahnfahrt zu verzichten und umgehend einen Notarzt oder eine Klinik aufzusuchen. Es sei auch nachvollziehbar, dass der Kläger im Sinne einer schnellen Genesung zu seinem Familienwohnsitz gereist sei, um dort seine Hausärztin aufzusuchen.

Praxishinweis

Einer ordnungsgemäß ausgestellten AUB kommt ein hoher Beweiswert beim Streit um Entgeltfortzahlung zu. Möchte der Arbeitgeber den Beweiswert erschüttern, muss er Umstände darlegen, die ernsthafte Zweifel an der tatsächlichen Erkrankung des Arbeitnehmers begründen. Dass dies gar nicht so einfach ist, verdeutlicht die vorliegende Entscheidung. Arbeitgeber sind dabei nicht auf die in § 275 I a SGB V aufgeführten Regelbeispiele beschränkt. Zweifel an der Richtigkeit einer AUB können sich z. B. aus anderweitigen Arbeitsleistungen, sportlichen Aktivitäten oder aus zeitlichen Zusammenhängen wie der passgenauen Abdeckung der Kündigungsfrist (vgl. BAG,ArbRAktuell 2021, 550; LAG Niedersachsen, BeckRS 2023, 7590) oder der Ablehnung eines Urlaubsantrags ergeben. Ist der Beweiswert der AUB erschüttert, hat der Kläger darzulegen, welche Krankheiten vorgelegen, welche gesundheitlichen Einschränkung bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Hierzu kann er seinen Arzt von der Schweigepflicht entbinden.

 

(ArbRAktuell 2023, 489, beck-online)