Das ist passiert
Eine Stationsaufsicht in Italien pflegte ihren vollständig pflegebedürftigen, schwerbehinderten Sohn. Sie bat ihren Arbeitgeber mehrfach, dauerhaft an einem Arbeitsplatz mit festen, planbaren Arbeitszeiten eingesetzt zu werden. Der Arbeitgeber gewährte nur vorübergehende Anpassungen. Eine dauerhafte Lösung lehnte er jedoch ab. Daraufhin legte die Arbeitnehmerin Klage ein und der Fall landete vor dem italienischen Kassationsgerichtshof (Corte Suprema di Cassazione). Hierbei handelt es sich um das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit Italiens, vergleichbar mit dem Bundesgerichtshof in Deutschland. Dieser wandte sich an den Europäischer Gerichtshof. Die Richter hatten Zweifel im Hinblick auf die Auslegung des Unionsrechts zum Schutz vor mittelbarer Diskriminierung eines Arbeitnehmers, der sich, ohne selbst behindert zu sein, um sein schwerbehindertes minderjähriges Kind kümmert.
Das ist die Entscheidung des EuGH
Der Europäische Gerichtshof stellte in seinem Urteil klar, dass der Diskriminierungsschutz nach der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie nicht nur Menschen mit Behinderung selbst umfasst, sondern auch ihre pflegenden Angehörigen – etwa Eltern, die sich um ein pflegebedürftiges Kind kümmern. Werden solche Beschäftigten durch starre Arbeitszeitmodelle benachteiligt, kann dies eine unzulässige mittelbare Diskriminierung darstellen.
Zudem ergibt sich aus dem Urteil eine Pflicht für Arbeitgeber, „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen, um die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu ermöglichen. Dazu können etwa feste oder flexiblere Arbeitszeiten, Teilzeitlösungen oder auch eine Versetzung an einen geeigneteren Arbeitsplatz zählen. Die zentrale Voraussetzung: Die Anpassungen dürfen den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belasten.
Ob eine solche unverhältnismäßige Belastung vorliegt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von der Größe des Unternehmens, den finanziellen und personellen Ressourcen sowie der Verfügbarkeit geeigneter Stellen.
Bei der Auslegung dieser Verpflichtungen sind zudem die EU-Grundrechtecharta sowie das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen maßgeblich. Diese betonen nicht nur das Recht auf Gleichbehandlung, sondern auch die Notwendigkeit, Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen aktiv zu unterstützen.
Wie geht der Fall nun in Italien weiter? Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hat keine unmittelbare Wirkung auf den dortigen Rechtsstreit. Die italienischen Richter werden den Fall nun unter prüfen müssen – insbesondere auch dahingehend, ob die dauerhafte Anpassung der Arbeitszeit der Frau den Arbeitgeber unverhältnismäßig belastet.
Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist ein starkes Signal, auch Betriebsräte, die sich aktiv für pflegende Beschäftigte einsetzen – insbesondere für Arbeitnehmer mit Pflegeverantwortung für Kinder.
Die Mitbestimmungsrechte bei Arbeitszeitregelungen (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG) sollten Betriebsräte gezielt nutzen, wenn Beschäftigte mit Pflegeverantwortung flexible Arbeitszeiten oder bestimmte Einsatzorte benötigen. Der Betriebsrat kann hier nicht nur die Initiative ergreifen, sondern auch konkrete Maßnahmen mitverhandeln und unter den genannten Voraussetzungen faire Arbeitsbedingungen mit erschaffen.
Betriebsräte können auch strukturell aktiv werden: Etwa durch die Einführung von sogenannten „Pflegeguides“, der Benennung von Ansprechpartnern oder durch betriebsinterne Aufklärung von Beschäftigten mit Pflegeverantwortung über ihre Rechte und Möglichkeiten.
Wichtig ist für Betroffene, Diskriminierung frühzeitig zu erkennen und zu benennen: Wenn etwa flexible Arbeitsmodelle nur gesunden Beschäftigten angeboten werden, pflegende Eltern aber leer ausgehen, kann das eine mittelbare Diskriminierung darstellen. (lg)